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Die Retrospektive des goEast-Festivals widmet sich
der Rezeption der Werke Anton Cechovs (1860-1904) im Film, auch mit Blick
auf den Länderschwerpunkt Russland bei der Frankfurter Buchmesse
2003 und die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003/2004. Bedeutende
Regisseure ließen sich faszinieren von Cechovs Welt und ihrem "schmerzliche(n)
Grundmuster der Existenz" (Natalia Ginzburg), in dem sich neben der
Schwermut oft auch der feine Faden der Komik findet. Besonders reizvoll
ist es daher zu vergleichen, wie sich Verfilmungen der Cechov-Stoffe in
Ost und West unterscheiden. ONKEL WANJA ist in Andrej Michalkov-Koncalovskijs
russischer Adaption von 1970 und in Louis Malles New Yorker Version VANYA
ON 42ND STREET (1994) zu sehen. Die Brüder Andrej Michalkov-Koncalovskij
und Nikita Michalkov suchen ihren jeweils ganz eigenen Cechov; Michalkov
in UNVOLLENDETE PARTITUR FÜR EIN MECHANISCHES KLAVIER (1977) und
dann in SCHWARZE AUGEN (1987). In dieser Verfilmung der Erzählung
"Die Dame mit dem Hündchen" brilliert Marcello Mastroianni.
Seine schauspielerische Leistung schärft den Blick für das "Cechoveske"
in den Charakteren, die Mastroianni in Filmen von Fellini, Antonioni und
Visconti darstellte: die Erkenntnis, dass einem das Leben entgeht, wenn
man nicht den entscheidenden Moment nutzt.
Überhaupt - Schauspieler in Cechov-Rollen. In Laurence Oliviers Film
DREI SCHWESTERN (1970) kommen sie als Schatten aus einer Puppenstubenwelt
und werden lebendig als Menschen, die mit allem, vor allem mit sich selbst,
und um alles kämpfen müssen, und das immer verhalten. Cechov,
der Arzt war und ein kritischer und sympathetischer "Menschenwissenschaftler",
rührt stets an das wunderbare Geheimnis des Menschseins: nicht zu
wissen, wohin das Leben führt, das trotz aller Widrigkeiten gelebt
werden muss. Also sind Abwege, Seitenblicke wesentlich.
"Wir haben weder Nah- noch Fernziele, unser Herz ist wie leergefegt.
Wir haben keine Politik, an die Revolution glauben wir nicht, wir haben
keinen Gott, haben keine Angst vor Gespenstern, und ich persönlich
habe nicht einmal Angst vor dem Tod (...)." Das schrieb Anton Cechov
im Jahr 1892 in einem Brief an seinen Verleger Suvorin. Seine Analyse
des Lebens in einer Zeit der Desillusion und des Wertevakuums ist heute
durchaus wieder aktuell. Er gesteht ein, dass die Lage schlecht ist, doch
er resigniert nicht. Sein umfangreiches erzählerisches und dramatisches
Werk spürt mit großer psychologischer Präzision der Befindlichkeit
von Menschen nach, die es verlocken könnte, im Stillstand der Zeit
sich zu verlieren und sich aufzugeben. Und dennoch gilt die Anforderung,
die er am Ende von "Onkel Wanja" (1897) formuliert: "Was
sollen wir machen? Wir müssen leben!" Leben heißt für
Cechov nicht allein, das Nichts zu ertragen. Leben bedeutet: sich öffnen
für die Momente der Hoffnung, die rar sind, die aufblitzen in einer
Geste oder in einem Wort. Cechov ist ein Meister in der Kunst der Nuance,
im Hinsehen und Hinhören auf das Zittern eines Körpers und das
Zittern eines Worts. Das ist bis heute die große ästhetische
Herausforderung für jeden Regisseur, der Cechovs Werke auf der Bühne
inszeniert oder sie für den Film bearbeitet: der Sinn für das
Zittern unter der Oberfläche, in dem sich die vage Möglichkeit
abzeichnet, es könne alles anders, es könne alles gut werden,
auf einem Seitenweg des Lebens.
Retrospektive:
Übersicht
Ausstellung:
Der Cechov-Clan
Szenische
Lesung: Briefe von Anton Cechov und Olga Knipper
Die Retrospektive des goEast-Festivals wird von der
BKM
(Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien) unterstützt.
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